Über die Brennnesselfaser
An verschiedenen Orten der Welt wurden Textilstücke aus Brennnesselfasern gefunden. Vor allem auf der Nordhalbkugel. Einige Funde kommen aus Dänemark, Skandinavien, aber auch in Russland, Japan, China, im Himalaya und in unserer Region (D,Ö,CH) wurde die Faser gefunden. Allerdings handelt es sich nicht immer um die Grosse Brennnessel, die Urtica dioica, sondern es gibt noch viele andere Nesselarten auf der Welt. So wird im Himalaya die Himalaya-Nessel Girardinia diversifolia geerntet. In Japan die Boehmeria silvestrii und in China die Boehmeria nivea, auch bekannt als Ramie und Chinagras.
Die Wissenschaft konnte nachweisen, dass bei dem mumifizierten Jungsteinzeitmenschen „Ötzi“ Brennnesselfasern zu finden waren, und archäologische Funde gehen bis in die Bronzezeit vor etwa vier Jahrtausenden zurück. Von da an kamen vereinzelte Textilstücke immer wieder in der Geschichte auf. Da pflanzliche Objekte sich schnell zersetzen, gibt es allerdings nicht viele Nachweise. Im 20. Jahrhundert haben Wissenschaftler jedoch alte Textilien erneut untersucht und festgestellt, dass einige fälschlicherweise als Leinenstoff bezeichnet wurden, obwohl sie eigentlich aus Nesselfasern bestehen. Das ist selten der Fall, lässt aber darauf schliessen, dass vermeintliche Leinenprodukte aus der Vergangenheit durchaus auch aus Brennnesselfasern bestehen könnten. Das bleibt aber vage, da es nicht viele Aufzeichnungen gibt.
In Dänemark z.B. wurde ein Brennnesseltextil in einem Grabhügel gefunden, der aus der Bronzezeit stammt. Forschungen zeigen, dass dieses Stück Stoff ursprünglich aus dem heutigen Österreich kommt. Obwohl es zu dieser Zeit auch vermehrt Flachsanbau gab, wurden dennoch Textilien aus wildwachsenden Brennnesseln produziert. Wenn die Fasern nämlich sorgfältig gesäubert werden, kommt die Haptik des Nesselstoffs der einer Rohseide sehr nahe.
Während der Kolonialzeit wurde dann Stoff aus Ramie importiert. Funde aus dieser Zeit müssen somit nicht von unserer einheimischen Nessel stammen. Und wenn etwas als Nesselstoff bezeichnet wurde, mochte das zu Beginn durchaus auf die Brennnesselfaser hindeuten; jedoch wurde das Wort später zur Bezeichnung einer Charaktereigenschaft eines Stoffes verwendet, egal aus welcher Faser dieser bestand.
Brennnesselfasern wurden auch für Segeltücher, Taue und Fischernetze verwendet.
Während der beiden Weltkriege wurde viel geforscht über die Kultivierungsmöglichkeiten und darüber, wie die Brennnesselfaser maschinell gewonnen werden kann. In Deutschland und Österreich, um nicht mehr von Ressourcen aus dem Ausland abhängig zu sein, z.B. Baumwolle aus den feindlichen USA. Aus dieser Zeit heraus wurde die Fasernessel Urtica Dioica L. convar. fibra gezüchtet, die zehn Prozent mehr Faseranteil hat als die gewöhnliche Grosse Brennnessel.
Die Kultivierung und das Entwickeln tauglicher Maschinen stellten sich schwierig dar, und so geriet die Brennnessel in Vergessenheit. Erst seit den frühen 1990er Jahren wird sie wieder beachtet. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts wurde abermals geforscht und versucht, die Brennnesselfaser in grossem Massstab zu gewinnen. Diese Versuche waren jedoch nicht erfolgreich, da Aufwand und Ertrag nicht stimmten.
Mittlerweile gibt es eine weltweite Community die v.a. durch Nettles for Textiles gefördert wurde, wo einzelne Personen für sich selber Textilien aus Brennnesseln herstellen und auf Social-Media-Plattformen ihre Erfahrungen austauschen.
In Norddeutschland gibt es eine Nesselfaser produzierende Firma, sie heisst Nettle Fibre Company®. Über den Prozess der Fasergewinnung konnten wir nicht viel erfahren. Der Vorgang verläuft jedoch mechanisch, mit einer sogenannten „Multipurpose – Anlage“. Diese Anlage ist für fast alle Bastfasern anwendbar.
Die Brennnesseln lässt die Firma von Landwirten bewirtschaften. Der Faseranteil der Brennnessel konnte von 10% auf 20% gesteigert werden; Ziel ist, auf 30% zu kommen, wie bei Hanf. Ein weiteres Ziel ist, bis Ende 2020 auf ein Drittel der bisherigen Vermehrungskosten zu reduzieren. Ein weiteres Ziel der Firma ist, 100% der langen Fasern extrahieren zu können. In einer Pflanze gibt es etwa 75% lange Fasern. Bisher lag deren Gewinnung nur bei 10 bis15%; auch da konnten sie ihrem Ziel näherkommen.
Auf dem Markt gibt es bereits Stoffe und Garne aus Himalaya-Nessel und Ramie, auch wenn sie noch nicht so bekannt sind. Mit unserer europäischen Fasernessel stellt sich alles ein wenig schwieriger dar. Das Verhältnis von Aufwand zu Ertrag stimmt nicht. Es wurde viel geforscht, wie die Brennnessel kultiviert werden kann; dabei gab es auch einige Probleme, da die Brennnessel nicht so homogen wächst. In einem nächsten Schritt die Maschinen, bzw. den ganzen Gewinnungsprozess im grossen Rahmen möglich zu machen, war und ist auch nicht einfach. Es wurde an mechanischen Prozessmethoden geforscht, an physio-chemischen und an mikrobiologischen Prozessmethoden! Unsere Recherche war somit ziemlich ernüchternd.
Wieso ist es so schwierig, Fasern aus Brennnesseln zu gewinnen? Bei Flachs und Hanf klappt es doch anscheinend auch?!
In dem Buch von Gillian Edom, einer Brennnesselforscherin und Mitglied bei Nettles for Textiles, wird die Brennnesselproduktion eher in kleinem Rahmen prognostiziert, sprich: Privatpersonen stellen ihre eigene Wolle aus Leidenschaft und Hobby her. Durch den weltweiten Austausch kann es allerdings durchaus möglich werden, eine grössere Produktion zu entwickeln.
Die Nettle Fibre Company® sieht die Zukunft der Brennnessel ziemlich positiv. Deswegen investieren sie auch sehr viel in die weitere Entwicklung. Es gibt jedoch noch viel zu erreichen, damit mehr Firmen auf den Geschmack der Brennnessel kommen. So haben die Landwirte noch kein GOT Zertifikat, und um das Produkt als Bio kennzeichnen zu können, dauert die Umstellung in der EU zwei Jahre. Die Brennnesseln brauchen aber keine Pestizide bzw. Herbizide. Nur nach der Ernte wird mit Mineralien gedüngt. Und da nicht gepflügt werden muss, ist die CO2-Bilanz auch sehr gut. Im Vergleich zu Baumwolle ist ihre Produktion sehr gering, obwohl sie auch schon Tonnen an Wolle gewinnen. Es sei jedoch unrealistisch, dass die Brennnessel die Baumwolle ganz oder sogar nur teilweise ersetzen könnte. Weil die Produktionskosten viel zu hoch sind – im Gegensatz zur Baumwolle.
Welche textilen Innovationen oder schon lange bekannten Fasern eignen sich als nachhaltige Alternativen zu heute gängigen Fasern und haben genug Potenzial sich in der Zukunft zu behaupten?
Grosses Potenzial haben die Hanffasern. Wie die Brennnessel ist Hanf eine Bastfaserpflanze. Zudem wächst Hanf sehr schnell, benötigt wenig Wasser und keine Pestizide. Die industrielle Produktion und Verwendung von Hanf wurden in der westlichen Welt bisher durch die Bekanntheit von Cannabis sativa als Freizeitdroge behindert. Mittlerweile beginnt sich die Faser im Bekleidungssektor jedoch zu etablieren.
Seit Jahrhunderten werden in Thailand und Myanmar Lotusfasern zu seltenen Stoffen verarbeitet. Das Verfahren ist recht zeitaufwändig und arbeitsintensiv, produziert aber ein luxuriöses Gewebe, das sich wie eine Kombination aus Seide und Rohleinen anfühlt.
Das taiwanesische Textilunternehmen Singtex® entwickelte ein Garn auf der Basis von Kaffeesatz. Die Technologie von Singtex® kombiniert den verarbeiteten Kaffeesatz mit Polymeren, bevor er zu Garn gesponnen wird. Der Kaffeesatz wird von einigen der größten Kaffeeverkäufer*innen der Welt wie zum Beispiel Starbucks bezogen und recycelt. Am Ende ihres Lebenszyklus’ können die aus diesem Garn hergestellten Textilien kompostiert werden.
Seit dem 13. Jahrhundert werden in Japan Fasern aus Bananenstaudenstämmen gewonnen. Diese Praxis wurde verdrängt, da andere Fasern wie Baumwolle und Seide aus China und Indien immer beliebter wurden. Seit ihrem Comeback anfangs der 2010er Jahre werden Bananenfasern heute wieder weltweit für zahlreiche Produkte verwendet. Die Fasern werden aus dem Stamm der Bananenstaude gewonnen und sind unglaublich langlebig. Textilien aus Bananenfasern sind atmungsaktiv und saugfähig und haben einen natürlichen, nahezu seidenen Glanz.
Die chinesische Textilmarke FLOCUS MADE IN KAPOK® stellt Garnmischungen, Gewebe und Füllungen aus Kapok her. Diese Faser wird aus der getrockneten Frucht des Kapokbaums gewonnen. Dank der harten Stacheln am Stamm sind keine Pestizide erforderlich. Die Samen, die sich zu Hunderten in jeder Frucht befinden, sind durch eine flauschige Faser geschützt. Der einzige Nachteil ist, dass sich die Faser nicht für ein hundertprozentiges Textil eignet. Allerdings kann die Mischung von Kapok mit anderen Materialien wie Baumwolle enorme Mengen an Wasser sparen.
Garn aus Seetang wird vom Unternehmen AlgiKnit® hergestellt. Der Fingertang, Laminaria digitata, eine große braune Alge, zählt zu den am schnellsten wachsenden Organismen der Welt. Aus dem Seetang wird Alginat extrahiert, eine Substanz, vergleichbar mit Pektin, welche der Wasserpflanze ihre typische Flexibilität verleiht. Das Alginat wird mit anderen erneuerbaren Biopolymeren kombiniert, um biologisch abbaubare Textilfasern herzustellen. Die Fasern sind stark und dehnbar genug, um von Hand oder maschinell gestrickt zu werden.
Das Spinnen von Hundehaaren zu Chiengora ist keine neue Kunstform. Hundehaare wurden in Garnen aus dem prähistorischen Skandinavien und in Textilien aus Nordamerika gefunden. Das Start-up Modus Intarsia baut ein Netzwerk aus Sammler*innen von Hunde-Unterwolle auf. Mit der Hilfe von Vierbeinern und ihren Pfleger*innen produzieren sie Chiengora. Reines Chiengora ist um bis zu 80% wärmer als Schafwolle.
Ananasblätter sind ein Nebenprodukt der Ananasernte in Philippinen. Aus den Blattfasern der Ananas wird unter dem Markennamen Piñatex® ein natürliches nicht gewebtes Textil als vegane Alternative zu Leder produziert.
Die jahrhundertealte Tradition, aus Pilzen eine lederähnliche Substanz herzustellen, wurde wiederbelebt. Für das Pilzleder, das das Unternehmen Zvnder herstellt, werden Zunderschwämme von Hand geerntet und bis zu einem Jahr lang getrocknet. Anschliessend werden sie geschält und in einem aufwändigen Prozess von Hand verarbeitet. Die heilenden Eigenschaften des Zunderschwammes sind seit Jahrhunderten bekannt.
Hannes Parth stellt aus Rückständen der Apfelsaftproduktion im Südtirol Apfelleder her. Vor der Weiterverarbeitung werden die groben Stücke zu einem feinen Pulver vermahlen. In einer Kunstleder-Fabrik im Industriegebiet von Florenz wird das Apfelleder schliesslich angerührt und auf einen Stoff-Untergrund aufgetragen. Die Schweizer Firma happy genie® etwa stellt aus diesem Material Luxustaschen her.